Die Stadt - Roman by Andreas Brandhorst

Die Stadt - Roman by Andreas Brandhorst

Autor:Andreas Brandhorst
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Herausgeber: Heyne
veröffentlicht: 2011-04-04T22:00:00+00:00


Eine gute Stunde lang durchstreiften sie die Bibliothek. Hannibals Aufzeichnungen hatten keinen Hinweis darauf enthalten, in welchem Teil des großen Gebäudes die Lebensbücher untergebracht waren. Louise bestand darauf, trotzdem zu suchen und auf ihr Glück zu vertrauen. Benjamin gab nach, weil er hoffte, sein eigenes Lebensbuch zu finden, und darin Antworten auf alle Fragen, die ihn beschäftigten. Die Anzahl der Bücher und Schriftstücke in der Bibliothek ließ sich nicht annähernd abschätzen; sie gingen in die Hunderttausende, vermutete Benjamin, vielleicht sogar in die Millionen. Ein Saal mit vollen Regalen folgte dem anderen, flankiert von Lese- und Studierzimmern, in denen oft Porträts würdevoller Männer und Frauen hingen. Vielleicht, dachte Benjamin, waren es Professoren oder altehrwürdige Bibliothekare. Als er Louise darauf hinwies, schüttelte sie den Kopf und sagte:

»Einen solchen Denkfehler hast du schon einmal gemacht, Ben. Diese Stadt entwickelt sich nicht von der Vergangenheit in die Zukunft, und sie hat auch keine Geschichte im uns vertrauten Sinn. Sie war nie voller gewöhnlicher Menschen, die morgens zur Arbeit gingen oder hierherkamen, um für ihr Studium zu lernen. Die Stadt war immer statisch.«

»Obwohl sie wächst«, sagte Benjamin und betrachtete das Bildnis einer streng blickenden, viktorianischen Frau. Das verstaubte Bild neben ihr zeigte einen sehr ernsten Mann um die siebzig, mit grauen Augen und einem Monokel an einer dünnen Kette.

»Ja«, sagte Louise und ging an den nahen Regalen entlang. »Die Stadt wächst und verändert sich, und doch bleibt sie immer gleich. Es ist eine Stadt der Toten. Sie empfängt jene, die in der anderen Welt gestorben sind.«

»Aber nicht alle«, murmelte Benjamin. »Nur einige. Warum? « Als Louise nicht antwortete, fuhr er fort: »Laurentius glaubt, dass sich die Stadt immer dramatischer verändert. Er hat davon geträumt, dass der Supermarkt verschwindet.«

»Das wäre schlimm«, sagte Louise betroffen. »Ich hoffe, dass sich Laurentius dieses eine Mal irrt. Ich meine, Hannibal würde ich es gönnen, aber ohne den Supermarkt wäre das Leben für uns alle verdammt schwer.«

Benjamin wandte sich von den Porträts ab. »Nach meinem Gefühl ist mehr als eine Stunde vergangen. Es wird bald zwölf Uhr und damit Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«

»Es sei denn, wir bleiben noch einen Tag hier und setzen die Suche fort«, sagte Louise. »Wir haben noch ein paar Äpfel, und Wasser gibt’s im Keller. Es hätte kaum einen Sinn, wenn ich mit leeren Händen zurückkehre. Außerdem würde es bedeuten, dass du dich in aller Ruhe nach deinem Lebensbuch umsehen kannst.«

Für einen Moment fühlte sich Benjamin in Versuchung geführt. Die Aussicht zu erfahren, wie er gestorben war und was es mit Townsend und den seltsamen Szenen auf sich hatte, an die er sich zu erinnern glaubte, war sehr verlockend. Aber es stand keineswegs fest, dass sie sein Lebensbuch bei einer längeren Suche finden würden – vielleicht befand es sich gar nicht in der Bibliothek. Außerdem hatte er das Gefühl, dass die Zeit drängte.

»Der nächste Ballon ist vielleicht ein richtiger und dient keinen Testzwecken. Laurentius hat von einer echten Chance gesprochen, die Stadt zu verlassen.«

»Willst du zu der anderen Stadt, deren Lichter du im Nebel gesehen hast?«, fragte Louise.



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